Ein gutes Leben für wirklich alle

11.04.2023

Im Streik entstehen neue Verbindungen zwischen Beschäftigten, die sich im stressigen Arbeitsalltag häufig kaum gegenseitig wahrnehmen. Die Kraft der Auseinandersetzung liegt nicht nur im sichtbaren Streik, sondern auch in der gemeinsam verbrachten Zeit; in den Begegnungen, die es ermöglichen, über den Tellerrand des eigenen Bereichs zu sehen. Das wurde noch mal deutlich, als die Streikenden der laufenden Tarifauseinandersetzung des öffentlichen Dienstes in Berlin am 6. März 2023 im Rahmen einer übergreifenden Streikversammlung zusammenkamen.

Die aktuellen massiven Tarifauseinandersetzungen zeigen, dass Arbeitskampf viel mehr als nur den Streit um mehr Lohn bedeutet, sondern hier auch die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Beschäftigten verhandelt werden.

Dabei gilt es, neben den verschieden starken Betroffenheiten der Entgeltgruppen und deren Auswirkungen auf die dort Beschäftigten ebenfalls zu beachten, dass es geschlechterspezifische Unterschiede ebenso gibt wie auch besondere Situationen von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Hierfür sind entsprechende Lösungen gefragt.

15 Reinigungskräfte aus dem Vivantes Klinikum Berlin Neukölln nutzten die Möglichkeit, um mit sehr eindrücklichen Beispielen aus ihrem Alltag zu verdeutlichen, welchen vielseitigen Problemen Menschen mit Einwanderungsgeschichte gegenüberstehen: „Wir sind die aus dem Maschinenraum, – man sieht uns nicht, aber ohne uns läuft nichts“. Es sei nicht nur ein Problem, dass in der Reinigung meist nur Frauen arbeiteten, sondern es generell in den unteren Lohngruppen im Servicebereich fast nur migrantische Kolleg*innen gebe. Die Frauen nutzten die Möglichkeit, ihre Sichtweise ungeschönt darzustellen. Sie kritisierten die Spaltung, die innerhalb der Berufsgruppen und Tätigkeitsbereiche in Großbetrieben spürbar seien.

Eine Pflegekraft aus der Berliner Charité reagierte betroffen: „Ich hatte keine Ahnung von den Arbeits- und Lebensbedingungen der ausländischen Reinigungskräfte, bis wir uns hier ausgetauscht haben. Wir müssen so etwas voneinander wissen. Und das auch nach dem Streik!“

Ausländische Fachkräfte in Anerkennung nutzen Tarifkonflikt für die Thematisierung ihres Alltags  

Neben den Auseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst befinden sich auch die Kolleg*innen des privatisierten Uniklinikums Gießen und Marburg seit dem 27. März im unbefristeten Streik, nachdem das Ultimatum von einhundert Tagen an die Arbeitgeber*innen ohne zufriedenstellendes Verhandlungsergebnis abgelaufen ist.

In dieser Auseinandersetzung hat sich eine Gruppe ausländischer Pflegefachkräfte in Anerkennung zusammengeschlossen. Das Ziel ist die Thematisierung ihrer Herausforderungen und Schwierigkeiten in der Zeit, in der sie auf die Anerkennung ihres im Herkunftsland erworbenen Berufsabschlusses hinarbeiten. So werden sie zum Beispiel trotz mehrjähriger Berufserfahrung bis zur Anerkennung ihrer Qualifikationen als Hilfskraft angestellt. Zusätzlich müssen sie neben der Vollzeitstelle im Schichtdienst den Sprachkurs besuchen und sich in der neuen Umgebung zurechtfinden. 

 
Flyer Intern. Treffen von Arbeiter*innen am UKGM

Der herrschende Personalmangel ist für Personen mit Einwanderungsgeschichte in der Einarbeitungszeit besonders belastend, da kaum Zeit und Personal da ist, um sie in die komplexen Abläufe einzuführen, die je nach Bereich stark variieren können. Außerdem kann die Sprachbarriere in stressigen Situationen enorme Auswirkungen auf Arbeitsabläufe und das Teamgefüge haben. Die internationalen Kolleg*innen fordern zudem mehr Unterstützung bei den bürokratischen Hürden im Anerkennungsverfahren durch die Arbeitgeber*innen.

Natürlich ist die Sorge vor Maßregelung und Schikane durch die Arbeitgeber*innen aufgrund der Beteiligung an Streiks nicht nur bei ausländischen Kräften ein Problem. Doch sichtbar für die Forderungen einzustehen, bedeutet für eingewanderte Beschäftigte oftmals ein erhöhtes Risiko, da ihr Aufenthaltsstatus an die Erfüllung ihres Arbeitsvertrags geknüpft ist. Dennoch: Auch in weiteren Krankenhäusern vernetzen sich die internationalen Kolleg*innen, um die Bedingungen der Anerkennungsverfahren zu thematisieren, zum Beispiel die mexikanischen Pflegekräfte am Städtischen Klinikum Karlsruhe.

Das starke Auftreten anderer migrantischer Kolleg*innen mache den „Neuen“ Mut und gebe ein Vertrauen in die gewerkschaftliche Stärke, so der Tenor bei vielen Veranstaltungen.

[11.4.2023 / Text: Anne Brüning]

 

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