Long-COVID: Wenn die Krankheit nicht aufhört

20.07.2021

Bislang immer noch zu wenig beachtet. Im Zuge der COVID-19-Pandemie stellen sich anhaltende gesundheitliche Beschwerden bei mit SARS-CoV-2 infizierten Personen (auch bekannt als Post-COVID-Syndrom oder Long-COVID) als erhebliche Herausforderung für Patient*innen, das Gesundheitssystem und die anderen sozialen Sicherungssysteme heraus. Betroffen sind hiervon auch zuvor gesunde Menschen jungen und mittleren Alters, die während der Akutphase ihrer Infektion zu einem großen Teil nicht ambulant oder stationär behandelt wurden. 

Vieles ist noch nicht wissenschaftlich valide erforscht. Doch laut verschiedener internationaler Publikationen weisen weltweit bis zu 80 Prozent der Personen zwei Wochen nach der Diagnose einer akuten Covid-19-Infektion mindestens ein Symptom auf. Zu den fünf häufigsten Symptomen von Long-COVID zählten das Fatigue-Syndrom, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Haarausfall und Luftnot. Angststörungen und Depressionen sind oft die Folge. Das Alter der Betroffenen variiere in Studien zwischen 32 und 64 Jahren im Mittel. Ihr Leben hat sich für immer verändert.

 
Dagmar König und Axel Schmidt

SARS-CoV-2 ist uns mittlerweile eine täglich, lästige Begleiterin geworden. Schon viel zu lange hält uns die Pandemie in und außer Atem. Besonders diejenigen, die ihre Liebsten und Angehörigen verloren haben, leiden unter der neuen Realität. Genauso wie jene, die unter den Folgen der Erkrankung leiden und die „wie zu befürchten ist, uns noch eine ganze Weile begleiten wird“, wie Dagmar König in ihren einführenden Worten sagte. „Auch wenn wir alle die Pandemie gründlich satt haben“, sagte das ver.di-Bundvorstandsmitglied“ ist für ver.di vor allem die Unterstützung der Betroffenen wichtig, die womöglich für immer oder zumindest lange unter den Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion zu leiden haben. 

Die Langzeitschäden sind für die Betroffenen sehr bitter und stellen Selbstverwalter*innen vor neue Aufgaben. Die Sozialversicherungsträger und ihre Selbstverwaltungen stehen vor erheblichen und neuen Herausforderungen. Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen müssen sich ebenso wie die Rentenversicherung auf umfassende und längerfristige Rehabilitationsmaßnahmen einstellen. Frühverrentungen oder eine vorgezogene Altersrente müssen von der Deutsche Rentenversicherung geprüft und bearbeitet werden. Die Krankenkassen haben ebenfalls mit zusätzlichen Ausgaben zu rechnen. Die Bundesagentur für Arbeit hat möglicherweise längere Phasen der Erwerbslosigkeit zu bearbeiten. Verstärkt könnten auch Umschulungen oder Erwerbsminderungsrentenanträge notwendig werden. 

Um sich auf all das vorbereiten zu können, hat Axel Schmidt, im Ressort Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik für die Soziale Selbstverwaltung zuständig, die Veranstaltung organisiert. Neben der politischen Arbeit vor allem in den Gremien für Arbeits- und Gesundheitsschutz und für ein möglichst gutes Kurzarbeitergeld "ist es für uns als ver.di wichtig, unsere Selbstverwalter*innen gut zu informieren, zu unterstützen und fit zu machen, um mit den neuen Anforderungen kompetent und sachgerecht im Interesse der Versicherten umgehen zu können“, schloss Dagmar König ihren Einführungsvortrag. 

Rehabilitation- und Therapieansätze 

Axel Schmidt begrüßte im Anschluss DIE Fachfrau für die Spätfolgen einer Corona-Infektion Dr. med. Jördis Frommhold, Lungenfachärztin und Chefärztin der Median-Rehaklinik Heiligendamm. In ihrem sehr interessanten Impulsreferat, das sie ob der Wichtigkeit des Themas in ihrem Urlaub hielt, betonte sie, dass leider für viele „genesen eben nicht gesund“ bedeute. In ihrer Klinik hat sie bislang an die 1.000 Patient*innen behandelt. Derzeit sind vor allem Rehaplätze und gesicherte Erkenntnisse und Behandlungsmethoden zu Long-COVID Mangelware. Im Moment schwanken auch die Zahlen zur Häufigkeit von Long-COVID je nach Studie zwischen 20–30 Prozent. Patient*innen mit leichtem oder schwerem Verlauf bilden unterschiedliche Symptome aus und benötigen unterschiedliche Rehabilitation- und Therapieansätze.  

 
Dr. Jördis Frommhold

Die Gruppe 3 macht Jördis Frommhold die größten Sorgen. Menschen, die mit einem leichten bis mittelschweren Verlauf durch die Akuterkrankung kommen, können danach trotzdem unter einem ganzen Bündel an Symptomen leiden und haben häufig zusätzlich unter der fehlenden Akzeptanz der Umwelt (Familie, Vorgesetzte, Arbeitskolleginnen: „Stell Dich nicht so an“) und den eigenen Ohnmachtsgefühlen zu leiden (betroffen sind viele Frauen, sie „laufen unter dem Radar“). Alltag und Berufstätigkeit sind kaum oder nur sehr eingeschränkt möglich. In der Reha geht es neben Anwendungen wie Atemgymnastik auch verstärkt darum, damit leben zu lernen, jetzt mit Long-COVID ein anderes Leben führen zu müssen. Dabei sind viele medizinische Fachrichtungen – der ganzheitliche Blick – gefragt, betonte Jördis Frommhold. 

Solche interdisziplinären Anlauf- und Therapieorte sind allerdings für viele Betroffene derzeit schwer zu finden. Im Moment fehlen vor allem Therapieplätze und gesicherte Ergebnisse zum multiplen Krankheitsbild. Dr. Frommhold hat deshalb gemeinsam mit der Universität Lübeck ein Projekt zur Überprüfung der Wirksamkeit von medizinischer Rehabilitation nach Covid-19-Erkrankungen gestartet. In der Studie, die finanziell von der Deutschen Rentenversicherung Bund mit rund 250 000 Euro gefördert wird, soll vor allem die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der pneumologischen Rehabilitation bei Patienten nach einer überstandenen Covid-19-Erkrankung untersucht werden. Denn neben den starken Beeinträchtigungen für die Patient*innen selbst, könnten bei der großen Menge an Betroffenen auch erhebliche volkswirtschaftliche und gesundheitsökonomische Folgen auf alle zukommen. 

Neben Long-COVID-Kompetenzzentren, in denen Akut- und Rehamedizin Hand in Hand arbeiteten, plädierte die Medizinerin vor allem für den schnellen Informationsaustausch. Hausärzt*innen komme dabei eine wichtige Schlüsselfunktion zu, da sie die Patient*innen an die richtigen und vor allem alle notwendigen Fachärzt*innen weiterleiteten. Allerdings kämen die Fachärzt*innen jetzt schon an ihre Kapazitätsgrenze und die große Anzahl an zu erwartenden Patient*innen erfordere wahrscheinlich zumindest für die Diagnostik interdisziplinäre Long-COVID-Kompetenzzentren und vielleicht auch unübliche digitale Nachsorgeangebote, um der Nachfrage der Betroffenen entsprechen zu können. Dr. Frommhold wies auch darauf hin, dass die 78 Tage Krankengeldanspruch für von Long-COVID-Betroffene nicht ausreichten und die dadurch entstehenden existenziellen Ängste dem Genesungsfortschritt nicht zuträglich seien.

Bericht einer Betroffenen über das Leben mit Long-COVID-19

 
Birgit Birner

Nach einer kurzen Gesundheitspause berichtete Birgit Birner im April 2020 an COVID-19 erkranktes und bislang nicht genesenes ver.di-Mitglied aus Ostbayern sehr eindrücklich von ihrem Leidensweg. Ohne Vorerkrankungen und sportlich ist die 47-Jährige bis heute stark eingeschränkt. Nach der akuten Erkrankung und dem anhaltenden Gefühl „als hätte man ihr den Stecker gezogen“ organisierte ihr mehr als engagierter Hausarzt eine Rehabilitation und Wiedereingliederungsmaßnahmen. Trotz ihrer klaren Zielsetzung danach gesund an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu können überwog auch Monate später die Erkenntnis, dass sie „ernster krank ist, als sie es sich eingestehen wollte.“ Die Rückkehr in ihren Beruf, als Dozentin im öffentlichen Dienst, in dem sie sehr viel sprechen musste, ist bis heute undenkbar. Sie wendete sich an den Personalrat, der wiederum die Integrationsstelle miteinbezog und ihr beim noch laufenden Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung half.

 

Glück im Unglück

Dieser Weg hätte allerdings viel zu lange gedauert. Zwischenzeitlich bot ihr Arbeitgeber ihr eine Ersatztätigkeit, bei der sie kaum sprechen muss. Und glücklicherweise fand sie nach ihrer Reha eine Selbsthilfegruppe für Post-Covid-19-Erkrankte in Oberbayern (www.pc-19.de): Denn ihr Leben hat sich seit der COVID-Erkrankung komplett verändert. Ohne den Kontakt zu ebenfalls Betroffenen und ohne die Hilfe ihres Hausarztes „wäre sie nicht mehr da“ sagte Birgit Birner in einem Nebensatz. Ein kleiner Satz, der das ganze Ausmaß ihrer Erkrankung spürbar machte. Über ihre Selbsthilfegruppe hat sie sich aus dem Gefühl der Ohnmacht zurück in die Handlung geholt. Sie haben ein Anregungspapier an die bayerische Staatskanzlei geschickt und engagieren sich für bessere Rahmenbedingungen von staatlicher Seite, für den längeren Krankengeldbezug, die Anerkennung als Berufskrankheit und Nachsorgezentren. Mit ihrer Selbsthilfegruppe setzt sie sich neben dem Austausch der Erlebnisse mit anderen Betroffenen, um sich gegenseitig zu stärken, Erfahrungen, Therapiemöglichkeiten auszutauschen, für folgende strukturelle Anliegen ein:

  • Statistische Erfassung der Post-COVID-Erkrankung
  • Wissenschaftliche Begleitung der Post-COVID Erkrankten, z.B. innerhalb von Studien
  • Schaffung von Post-COVID-Ambulanzen möglichst in allen Regierungsbezirken Bayerns
  • Weiterbildung der Hausärzte in Bezug auf Post-COVID (z. B. Atemtherapien, Lungensportmöglichkeiten)
  • Empfehlungen an Arbeitgeber

Birgit Birner beendete ihre sehr beeindruckenden Ausführungen mit dem Appell, „dass wir den Rest der Pandemie jetzt auch noch schaffen“. Sie wünsche sich allerdings „mehr Solidarität, mehr Verständnis und mehr Besinnung auf das Wesentliche: die Gesundheit.“ Dem blieb von Veranstalter*innenseite kaum etwas hinzuzufügen. Außer dem großen Respekt für den Einblick in diese persönliche Krankengeschichte, die das Ausmaß von Long-COVID deutlich und dennoch Mut machte.

Weiterbildungen für Hausärzt*innen zum komplexen Krankheitsbild

Nach der Mittagspause erläuterte Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer und im Hauptberuf Facharzt für Allgemeinmedizin, wie man die Weiterbildung von Hausärzt*innen zum Thema Long-COVID-19 organisieren könne. Da Long-COVID ein komplexes Krankheitsbild sei, das neben der Schädigung der Lunge das Gefäß- Blutgerinnungs- und Nervensystem angreife und zudem psychische Folgen nach sich ziehe, brauche es allein zur Diagnostik sehr gut ausgebildete Ärzte, sagte er eingangs. Zudem sei bislang in Deutschland zu wenig in die Begleitforschung investiert worden. Es sei immer noch nicht gesichert, was Long-COVID genau sei, vermutlich eine Kombination verschiedener Erkrankungen. Eine S1-Leitlinie, die Handlungsempfehlungen von Expert*innen zusammenfasst, sei auf dem Weg. Sobald sie da sei, könne die Weiterbildung von Hausärzt*innen spezifiziert und die Erarbeitung von Veranstaltungsformaten schnellstens angepasst werden.

 
Erik Bodendieck

Zudem verspricht sich Erik Bodendieck, für viele seiner Kolleg*innen mit zunehmenden Studien und Erkenntnissen auch ein besseres Verständnis des "Chronic fatigue Syndromes". Unser jetziges Gesundheitssystem sei auf komplexe Krankheitsbilder, die eine ganzheitliche Diagnostik und vor allem Zeit und Kommunikation zwischen Patient*in und Ärzt*in erforderten (sprechende Medizin) nicht ausgerichtet, betonte der Arzt „Nicht symptomatisch erklärbare Krankheiten bringen hierzulande große Schwierigkeiten mit sich – auf der Ebene der Abrechnung für Ärzt*innen, auf der Ebene der langwierigen Erklärungs- und Behandlungssuche für die Patient*innen", erklärte Bodendieck. Das gesamte System sei auf einer einfachen Symptomatik begründet, komplexere Krankheitsbilder fielen hintüber, betonte Erik Bodendieck. Sobald aber eine sichere Definition von Long-COVID vorliege, müsse das Hauptaugenmerk auf die umfassende Weiterbildung der Hausärzt*innen gelegt werden. Long-COVID habe Auswirkungen auf das gesamte Sicherungssystem und sei keine rein medizinische Frage. Die politischen Rahmenbedingungen müssten stimmen. Bodendieck setzt sich deshalb auch im Gesundheitsausschuss des Bundestages für eine vereinfachte Anerkennung von COVID-19 als Berufskrankheit, ein verlängertes Krankengeld und bessere Abrechnungsmöglichkeiten für Ärzt*innen ein.

Forderungen an die Politik

Der Vortag war die perfekte Hinleitung zur Diskussionsrunde mit den Mitgliedern aus dem Parlamentarischen Begleitgremium Covid-19-Pandemie. Hilde Mattheis MdB (SPD), Dr. Georg Kippels MdB (CDU/CSU), Reinhard Houben MdB (FDP)und Harald Weinberg (DIE LINKE) diskutierten allerdings viel weniger kontrovers, als man es von Politiker*innen aus so unterschiedlichen Parteien vermuten könnte. Alle waren sich einig, dass Long-COVID mehr Aufmerksamkeit verdiene. Einig waren sich die Politiker*innen auch darüber, dass mehr Forschung zu der Krankheit nach der Erkrankung von Nöten sei. Ein Antrag der Fraktion DIE LINKEN fordert „Long-COVID als Berufskrankheit anzuerkennen und die Versorgung Betroffener sicherstellen” (BT-Drucksache 19/29270) und ein weiterer der FDP-Fraktion die „Spätfolgen der Corona-Erkrankung ernst zu nehmen – Long-COVID-Behandlungszentren etablieren” (BT-Drucksache 19/29267). Die Bundesregierung jedoch muss sich die Frage stellen lassen, warum sie nicht viel früher und entschiedener Studien zu den Spätfolgen für SARS-CoV-2 infizierte Personen in Auftrag gegeben hat.

 

Hilde Mattheis sagte in ihrem Statement „dass sie sich für eine Sonderregelung für ein verlängertes Krankengeld“ einsetze. Georg Kippels machte darauf aufmerksam, dass Long-COVID noch nicht mit abschließender medizinischer Evidenz erforscht sei, um sich „auf den richtigen Therapieweg zu begeben“ und machte sich ebenfalls für erhöhte Forschungskapazitäten stark. Reinhard Houben betonte, dass seine Fraktion diese dringend benötigten zusätzlichen Forschungsgelder in einem Antrag gefordert habe, denn „diese Krankheit trifft viele Menschen sehr hart, mit sehr unterschiedlichen Langzeitfolgen und wird nicht verschwinden“. Zudem ginge es jetzt um: „Impfen, Impfen, Impfen.“ Harald Weinberg verwies ebenfalls auf den von ihm mitverfassten Antrag und die Erkenntnislücken, die auch im zweiten Jahr der Pandemie nicht zu verleugnen sind. In einer weiteren Kleinen Anfrage schlagen die Abgeordneten von DIE LINKE vor, arbeitsbezogene Corona-Erkrankungen für alle Beschäftigtengruppen als Berufskrankheit anzuerkennen. Außerdem sollten zusätzliche Kapazitäten zur Behandlung von Covid-19 und Long-Covid geschaffen werden sowie Kapazitäten für Patient*innen, die an einem Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) erkrankten. DIE LINKE fordert ebenfalls, dass für Betroffene eine zentrale Beratungs- und Koordinierungsstelle eingerichtet werden solle. „Zudem sollte ein Programm zur Erfassung, Dokumentation und Erforschung von Covid-19-Langzeitfolgen und ME/CFD und zur medizinischen Therapie aufgelegt werden“, kann man auf den Seiten des Bundestages nachlesen. 

Absicherung auch wesentlich  

 
Diskussionsrunde

Neben dem Fokus auf die Erforschung des Krankheitsbildes und der Behandlungsmethoden, müsse die sozialrechtliche Absicherung einer COVID-19-Erkrankung bzw. ihrer Spätfolgen ausgebaut werden, darüber waren sich die Politiker*innen auch einig. Dies könne etwa über eine befristete Anerkennung einer Schwerbehinderung oder die Anerkennung als Berufskrankheit erreicht werden. ver.di wird sich auch weiterhin auf allen Ebenen der politischen Einflussnahme dafür einsetzen, dass Betroffene besser geschützt werden und ihnen die Hilfe zukommt, die sie zu Recht erwarten können. „Deshalb ist es für uns so wichtig, unsere Selbstverwalter*innen möglichst gut und umfassend zu informieren und zu unterstützen, damit sie die Interessen der Betroffenen wahrnehmen, sie durch den Dschungel der sozialen Sicherungssysteme führen und ihnen helfend zur Seite stehen können“ sagte Dagmar König in ihren abschließenden Worten der sehr informativen und gleichzeitig berührenden Veranstaltung.

[20.7.2021] 

 

Weitere Infos zu "Möglichkeiten und Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben für Long-COVID-Erkrankte" auf der Webseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales