14.05.24
Mit den Anträgen, die alle vier Jahre während des Bundeskongresses diskutiert und verabschiedet werden, stellt das höchste ver.di-Gremium die Weichen für die Gewerkschaftspolitik der kommenden Zeit. Zuletzt kamen die über 1.000 Delegierten im September in Berlin zusammen. Neben weiteren großen Leitanträgen und vielen sehr detaillierten Einzel- und Änderungsanträgen befasste sich der Kongress auch mit dem Antrag „B 083 - Aktive Arbeitsmarktpolitik in einer vielfältigen Gesellschaft“. Besagten Antrag des Gewerkschaftsrates hatte das Ressort 5/Referat Arbeitsmarktpolitik federführend (mit) auf den Weg gebracht.
Der Antrag B 083 leitet die besondere Bedeutung von (aktiver) Arbeitsmarktpolitik in Zeiten grundlegender, gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse her und definiert die Rolle von ver.di als politische Akteurin in diesem Kontext:
Auf dem Arbeitsmarkt stehen die Akteur*innen vor großen Herausforderungen. Aus demografischer Perspektive wird insbesondere der Übergang der sogenannten Babyboomer in den Ruhestand Spuren am Arbeitsmarkt hinterlassen: Laut Statistischem Bundesamt werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 das Renteneintrittsalter überschritten haben. Ein empfindlicher Arbeits- und Fachkräftemangel wäre - ohne Gegensteuern- die Konsequenz. Die Folgen sind jetzt zum Teil bereits messbar.
Die Nachwirkungen des technologischen Wandels prägen das aktuelle Arbeitsmarktgeschehen. Dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge arbeitete 2021 rund ein Drittel der Arbeitnehmer*innen in Berufen mit hohem Substituierbarkeitspotenzial. Auch wenn die betroffenen Arbeitsplätze sicher nicht „einfach“ wegfallen, kommt es erwartbar zu Verschiebungen innerhalb des Arbeitsmarktes und der Branchen, die es im Sinne der Arbeitnehmer*innen sozialverträglich zu gestalten und arbeitsmarktpolitisch zu begleiten gilt. Auch die Umstellung der Volkswirtschaft auf ein klimaneutrales Wirtschaften wird die Entwicklungen am Arbeitsmarkt beeinflussen. Art und Umfang dieser Dynamik sind noch nicht präzise quantifizierbar. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass die Nettobeschäftigungseffekte leicht positiv bis neutral ausfallen werden, die Verschiebungen zwischen den Sektoren und Berufen und die damit erforderlichen Umsteuerungsaufwände könnten jedoch erheblich sein.
Der durch diese Megatrends ausgelöste, laufende Strukturwandel – verstärkt durch die sehr präsenten Krisenauswirkungen der Corona-Pandemie und der anhaltend gestiegenen Inflation – erzeugt bei vielen Beschäftigten Unsicherheiten und soziale Abstiegsängste. Diesem Umstand muss eine verlässliche und ausgewogen ausgestaltete Arbeitsmarktpolitik gerecht werden, die sich am Gemeinwohl orientiert und gestalterisch an der Transformation mitwirkt. Um in ungewissen Zeiten, Sicherheit zu vermitteln und Arbeitnehmer*innen in der Transformation „mitzunehmen“ gilt es konzertierte Anstrengungen zu unternehmen, die dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die etwaige Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen. Ziele sind und bleiben ein hoher Beschäftigungsstand und die stetige Verbesserung der Beschäftigungsstruktur.
ver.di bringt sich als politische Akteurin aktiv und konstruktiv-kritisch in die arbeitsmarktpolitischen Diskussionen auf allen Ebenen ein.
Neben dieser sehr grundsätzlichen Einordnung definiert der Antrag thematische Schwerpunkte (u.a. die nachstehend näher ausgeführten) und formuliert jeweils einschlägige Forderungen und konkrete Arbeitsaufträge – nach Innen und nach Außen:
Der Übergang zwischen Schule und Beruf ist stärker in den Fokus der Bemühungen zu nehmen. Der strukturierten, gut ausgewogenen und länderübergreifend chancengleich ausgestalteten Berufsorientierung muss mehr Bedeutung eingeräumt werden. ver.di fordert, dass der Übergang zwischen Schule und Beruf/Studium deutlich besser ausgestaltet wird: Kein*e Schulabgänger*in darf ohne das Angebot einer konkreten Anschlussperspektive, die ihren*seinen Interessen und Neigungen entspricht, in das Leben „nach der Schule“ entlassen werden.
ver.di macht sich dafür stark, dass ausnahmslos alle Potenziale am Arbeitsmarkt tiefgehend analysiert und mit geeigneten Maßnahmen gehoben werden. Aktuell trifft eine Rekordzahl an verfügbaren Stellen auf ein - auf den ersten Blick - nicht hinreichendes Angebot an verfügbaren Arbeitskräften. Hier gilt es konsequent anzusetzen und bestehende „Passungenauigkeiten“ abzubauen. Ein besonderes Augenmerk muss in diesem Kontext auf der Erwerbsbeteiligung von Frauen liegen. Gute Arbeitsmarktpolitik in diesem Sinne zielt konsequent darauf ab, die berufliche Situation von Frauen zu verbessern. Es gilt bestehende Markt-Nachteile für Frauen zu beseitigen und auf die Überwindung eines geschlechtsspezifisch geprägten Ausbildungs- und Arbeitsmarktes hinzuwirken.
Weitere Personengruppen, die stärker als bisher im Fokus einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik stehen müssen, sind Menschen mit Behinderung, bereits hier lebende Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Fluchtgeschichte. Zudem muss gute Arbeitsmarktpolitik selbstverständlich auch weiterhin die nachhaltige Überwindung von Langzeitarbeitslosigkeit zum Ziel haben und darauf hinwirken, Betroffenen neue Chancen am Arbeitsmarkt aufzuzeigen.
Gute Erwerbsmigration kann zur Verringerung von Engpässen am Arbeitsmarkt beitragen und Wirkung erzielen, wo das inländische Potenzial auch längerfristig nicht bedarfsdeckend ist. Gute Einwanderungspolitik darf sich grundsätzlich nicht an ausschließlich ökonomischen Motiven orientieren. Vielmehr müssen die einwandernden Arbeits- und Fachkräfte und ihre Familien mit ihren individuellen Bedürfnissen in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt werden. Denn: Bei Einwanderung geht es in erster Linie um die Menschen. Wer nach Deutschland kommt, hier lebt, arbeitet (und bleibt), braucht die Chance, in unserer Gesellschaft anzukommen, gleichberechtigt teilzuhaben und eine dauerhafte Bleibeperspektive.
ver.di fordert eine wohlüberlegte, faire Arbeits- und Fachkräfteeinwanderung und setzt sich dafür ein, die (öffentliche) Debatte um Einwanderung und Integration zu versachlichen und Mobilität und Migration als gesellschaftlichen Normalzustand in einer globalisierten Welt zu verstehen.
Das umfangreiche und inhaltlich absolut spannende Arbeitsprogramm für das Referat Arbeitsmarktpolitik steht also – es gibt viel zu tun.
Fortsetzung folgt …
[10.10.2023]
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