18.09.24
Viele Millionen Menschen die hier leben und arbeiten sind von der politischen Mitbestimmung durch Wahlen ausgeschlossen, weil sie keine deutsche Staatsangehörigkeit haben. Auch im Betrieb war das passive Wahlrecht, also das Recht selber zu den Betriebsratswahlen kandidieren zu können, lange Zeit deutschen Beschäftigten vorbehalten. Am 18. Januar jährt sich die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes zum 50. Mal: Seitdem dürfen Menschen ohne deutschen Pass nicht nur wählen (das dürfen sie seit 1952), sondern sich auch wählen lassen. Zwei Jahre später wurde die Änderung auch auf die Personalvertretungsgesetze übertragen.
ver.di, die IG Metall und die VHS Aachen nahmen dieses Jubiläum im Rahmen einer online Veranstaltung zum Anlass für eine gemeinsame Veranstaltung an der etwa 70 Kolleg*innen aus Gewerkschaften, der Politik und der Zivilgesellschaft teilnahmen.
Zu Beginn warf der Historiker Simon Goeke einen Blick auf die Geschichte der Einwanderung in Deutschland und der Kämpfe der so genannten Gastarbeiter*innen, die mit ihren Forderungen nach besserer Gesundheitsversorgung, Unterbringung und politischen Rechten oftmals über die gewerkschaftlichen Themensetzungen hinausgingen. Goeke führte die Änderung 1972 auf die starke Beteiligung eingewanderter Beschäftigter in den Streikwellen der 60/70er Jahre zurück. In der Folge übernahmen die Industriegewerkschaften die Forderung nach einem Recht auf bessere Repräsentation im Betrieb. Die Anzahl ausländischer Betriebsräte stieg bereits im Jahr 1975 auf über 5000 Kolleg*innen an. (Weitere Informationen bei der Hans-Böckler-Stiftung Migration - Kommission 'Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie' (boeckler.de))
Politisch habe sich allerdings bis heute nicht viel geändert. Goeke bezeichnete die Einrichtung der so genannten Ausländerbeiräte mit oftmals nur beratender Funktion für die kommunale Ebene als „faulen Kompromiss“ gegenüber weitreichender Forderungen nach der Ausweitung des politischen Wahlrechts, wie sie auch von den Gewerkschaften seit vielen Jahren erhoben wird.
Riza Gürel, der Übersetzer und Kommentator des Betriebsverfassungsgesetzes ins Türkische und die Daimler-Betriebsrätin Dimitra Koemtzidou (Kinder der ersten Generation - Hans-Böckler-Stiftung (boeckler.de))
berichteten anschließend über die Hintergründe ihres Engagements als Interessensvertreter*in bzw. in der Ausbildung von Betriebsräten. Gürel ermutigte eingewanderte Kolleg*innen dazu, sich für die BR-Wahlen aufzustellen, auch wenn jemand nicht perfekt deutsch spreche: „Niemand kennt die Situation der Kolleg*innen besser, und dieses Wissen braucht jedes gut Betriebsratsgremium“, folgerte Gürel.
Die Arbeitsrechtlerin Johanna Wenckebach sprach zum Abschluss über die Herausforderungen, vor denen die Mitbestimmung insbesondere in stark migrantisch geprägten Branchen wie der Gig Economy heute stehe. Sie machte deutlich, dass das Betriebsverfassungsgesetz im Sinne einer „antirassistischen Mitbestimmung“ an vielen Stellen der Realität der Einwanderungsgesellschaft und der Digitalisierung angepasst werden müsse. Als Beispiel nannte sie die Durchsetzung des Schutzes vor Diskriminierung, dessen Notwendigkeit auch mit der Anwendung künstlicher Intelligenz steige. Ebenso sei das digitale Zugangsrecht für die Gewerkschaften in Betrieben zu verbessern, die oftmals keinen festen Betriebsort mehr haben.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Erfahrungen forderte Wenckebach, dass es eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften sei, die Gremien vielfältig zu besetzen: „Alle Beschäftigten müssen den Eindruck haben, dass sie in den Gremien vorkommen und sie gesehen werden“, sagte die Leiterin des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts.
Die Veranstalter von ver.di, der IG Metall und der VHS Aachen machten zum Abschluss deutlich, wie wichtig es ist, sich an den Betriebsratswahlen in den nächsten Wochen zu beteiligen und das aktive und passive Wahlrecht zu nutzen, um einen starken Betriebsrat zu wählen, der sich für die Interessen der Beschäftigten einsetzt. Denn gerade in einer Zeit der vielschichtigen Umwälzungen, der Transformation und des demografischen Wandels, ist es unabdingbar, dass sich Arbeitnehmer*innen organisieren und mit einer Stimme sprechen – egal welchen Pass sie haben.
Ebenso gelte es, die betrieblichen Erfahrungen als gute Beispiele zu verbreiten: Demokratische Rechte führen zu einer starken Teilhabe von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Von daher ist die betriebliche Mitbestimmung ein Erfolgsmodell für Teilhabe und Willensbildung in der Einwanderungsgesellschaft.
[18.1.2022]
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