Betriebsversammlungen für alle: Aber wer trägt die Kosten für Übersetzungen?

13.06.2023

In vielen Betrieben arbeiten Kolleg*innen unterschiedlichster Herkunft zusammen. Diese Vielfalt betrifft auch die Sprachen, die im Betrieb gesprochen werden. Gerade vor dem Hintergrund der starken Einwanderung in den letzten Jahren ist es für viele betriebliche Interessensvertretungen herausfordernd, alle Beschäftigten in gleicher Weise kommunikativ zu erreichen. Viele Menschen wissen es aus eigener Erfahrung: Das Erlernen einer neuen Sprache hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, der Erfolg kann nicht allein von der individuellen Bereitschaft abhängig gemacht werden – auch die Rahmenbedingungen für den Spracherwerb müssen stimmen.

Eine Belegschaft kann nur zusammenstehen und gemeinsam Probleme anpacken, wenn alle Beschäftigten in gleicher Weise informiert sind. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die ver.di-Kolleg*innen im Betriebsrat eines großen Logistik-Unternehmens in Leipzig angeregt, die Betriebsversammlung in fünf verschiedene Sprachen simultan zu übersetzen und die Übernahme der dazu notwendigen finanziellen Mittel beim Arbeitgeber zu beantragen.

Das im Jahr 2006 gegründete Re-commerce-Unternehmen für den An- und Verkauf von gebrauchten Büchern, Medien und Mode ist seit der Gründung konstant gewachsen. In den letzten 15 Jahren ist das Unternehmen auch in den Märkten in Frankreich, Österreich, Großbritannien, Spanien und Italien aktiv. Parallel zu der Marktexpansion ist auch der Umsatz gewachsen und betrug nach eigenen Daten im Jahr 2021 335 Millionen Euro.

Zurzeit betreibt das Unternehmen sechs Logistikzentren in Polen und Deutschland. Am Standort Leipzig arbeiten 1219 Beschäftigte, davon 582 mit deutscher Staatsangehörigkeit und 637 ausländische Beschäftigte aus 62 Nationalitäten. Die größten Sprachgruppen im Betrieb sind: Deutsch (47 %), Arabisch (23 %), Farsi (5 %), Polnisch (4 %), Tigrinja (3 %) und vermutlich Englisch. Das Lohnniveau liegt knapp über dem Mindestlohn.

Fehlende Übersetzung führt zu Unsicherheit

Trotz des hohen migrantischen Anteils der Belegschaft und der sprachlichen Barrieren im Betrieb fanden bis Ende 2022 Betriebsversammlungen ohne Übersetzung in andere Sprachen statt. Das hat oft zu Ungewissheit über die Inhalte, Verzögerungen und Unruhe geführt, da die Kolleg*innen füreinander übersetzten.

Ende 2022 forderte der Betriebsrat den Arbeitgeber daher zur Übernahme der Kosten für Simultanübersetzungen und technische Ausrüstung während der für im März 2023 geplanten Betriebsteilversammlungen auf. Die Versammlungen hätten am selben Tag in zwei unterschiedlichen Zeiträumen stattfinden sollen. Dafür wurden Übersetzungen in den fünf meistgesprochenen Sprachen (Englisch, Arabisch, Farsi, Polnisch und Tigrinja) im Betrieb vorgesehen, mit einem gesamten Einsatz von zehn Simultandolmetscher*innen. Ein zentrales Thema der Versammlungen war die Veröffentlichung der erschreckenden Ergebnisse einer Umfrage zu Diskriminierungserfahrungen im Betrieb.

(Mehr dazu in der ver.di-Publik: Am Arbeitsplatz diskriminiert und sexuell belästigt).

Da der Arbeitgeber die Kostenübernahme ablehnte, wurde ein Beschlussverfahren beim Arbeitsgericht in Leipzig eingeleitet.

Arbeitsgericht unterstützt die Sichtweise des Arbeitgebers

Die Anträge des Betriebsrates wurden von dem Gericht in erster Instanz zurückgewiesen (Arbeitsgericht Leipzig, AZ 8 BV 56/22). Begründet wurde die Zurückweisung damit, dass der Betriebsrat bei den verlangten Sachmitteln und dem damit resultierenden Kostenaufwand (Simultandolmetscher*innen und technische Ausrüstung) für die Erledigung seiner gesetzlichen Aufgaben nicht nur die Interessen der Beschäftigten, sondern auch die berechtigten Interessen des Arbeitgebers berücksichtigen muss. Außerdem sind Betriebsversammlungen nach Auffassung des Gerichtes nicht zwingend das einzige Mittel für den Austausch zwischen Belegschaft und Betriebsrat. Des Weiteren betont das Gericht, dass der Anspruch nach § 43 BetrVG auf Übersetzungen aus der deutschen Sprache in andere Sprachen nur in besonderen Situationen vorgesehen ist, in denen die behandelten Themen von besonderer Bedeutung für die Beschäftigten sind. Der grundgesetzliche gebotene Schutz vor Diskriminierung scheint für das Arbeitsgericht Leipzig nicht zu diesen Themen zu zählen.

Gerichtliche Argumentation verkennt die Realität

Grundlage der Zurückweisung ist auch die Annahme des Gerichtes, dass es in „erster Linie jedoch Aufgabe der eingewanderten Menschen (ist), Anstrengungen zu unternehmen, die deutsche Sprache zu erlernen, so schwer es ihnen fällt“. Weiter heißt es: „Das Erlernen einer Sprache hängt unter anderem mit dem Bildungsniveau und der persönlichen Motivationsfähigkeit zusammen.“ Mit anderen Worten ließe sich auch sagen: Selbst schuld. Diese Argumentation verkennt die Situation vieler eingewanderter Menschen, gerade Geflüchteter, von denen viele bei dem Logistikunternehmen arbeiten. So waren Menschen aus Afghanistan lange Zeit aus politischen Gründen von dem Recht auf den Besuch von Sprach- und Integrationskursen ausgeschlossen, weil sie möglichst schnell in ihr krisengeschütteltes Herkunftsland zurückkehren sollten. Ebenso zeigte der Arbeitgeber keine Bemühungen, die Beschäftigten beim Spracherwerb zum Beispiel über Freistellungen für Sprachkurse zu unterstützen.

Übersetzungen seien Bevorzugung

Zudem benachteilige laut Beschlussbegründung die Auswahl der zu übersetzenden Sprachen (fünf von mehr als 50 Sprachen) bei der Betriebsversammlung die Beschäftigten, deren Sprache nicht übersetzt wird. Das Gericht ignoriert bei dieser Begründung, dass knapp über 500 Kolleg*innen von der Übersetzung profitieren würden.

Besonders unverständlich erscheint aber die Behauptung des Gerichts, dass die Belange der deutsch sprechenden Beschäftigten „durch die vorgenommenen Übersetzungen, ebenso wie durch die längere Dauer der Betriebsversammlungen durch Verzögerungen und Bevorzugung einer Arbeitnehmergruppe beeinflusst werden.“ Hier würden „Arbeitnehmergruppen ohne ausreichenden sachlichen Grund unterschiedlich behandelt werden“, die Kosten für den Arbeitgeber seien „unverhältnismäßig hoch“.

Zwischenfazit: Die Herstellung von Chancengleichheit wird zu einer Bevorzugung umgedeutet, die wenigen Kolleg*innen, die nicht von der Übersetzung profitieren, müssen herhalten, um den Ausschluss großer Gruppen von Beschäftigten zu legitimieren.

Was kann der Betriebsrat tun?

Die Begründung und der Beschluss, der nun in der zweiten Instanz geprüft wird, bedeutet einen Rückschritt im Vergleich zu der bisherigen Rechtsprechung und der damit gekoppelten gesetzlichen Lage. Bislang wurde der Spielraum von Betriebsräten zu dem Thema offengehalten.

Es gibt zwar im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) keine gesetzliche Vorschrift, die Arbeitgeber*innen zu einer Verdolmetschung verpflichten (wie es etwa auf europäischer Ebene im Europäische Betriebsräte-Gesetz EBRG und im Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft SEBG geregelt ist), gleichwohl ist der Betriebsrat in Deutschland aber verpflichtet, seine Aufgaben zu erfüllen. Nach § 40 Abs. 1 und Abs. 2 BetrVG in Verbindung mit § 43 Abs. 1 BetrVG muss der Arbeitgeber erforderliche Sachmittel (Räumlichkeiten und sonstige erforderliche Sachmittel) zur Durchführung einer Betriebsversammlung stellen und die Kosten tragen.

Welche Urteile zum Thema gab es bereits?

In Zukunft sollte der Betriebsrat im Vorfeld einer geplanten Betriebsversammlung einen Beschluss fassen, dass eine Verdolmetschung erforderlich ist und dies auch mit dem Arbeitgeber vorher absprechen.

Immerhin haben seit den 80er-Jahren verschiedene Arbeitsgerichte in einzelnen Fällen bestätigt, dass in Betrieben mit zahlreichen ausländischen Arbeitnehmer*innen erforderliche Kosten im Sinne der BetrVG auch diejenigen sind, die durch die Hinzuziehung von Dolmetschern, wie zum Beispiel während Betriebsversammlungen (LAG Baden-Württemberg 5 TaBV 14/96), zur Sprechstunde des Betriebsrates oder zur Übersetzung von Verlautbarungen des Betriebsrates, entstehen.

Das Arbeitsgericht in Stuttgart hat 1981 entschieden, dass die Kosten für Verdolmetschung vom Arbeitgeber zu tragen sind, wenn ein großer Teil der Belegschaft der deutschen Sprache nicht mächtig ist (ArbG Stuttgart, Urteil v. 27.2.1986, 17 Ca 317/85; LAG Düsseldorf, Beschluss v. 30.1.1981, 16 TaBV 21/80), siehe https://www.haufe.de/personal/haufe-personal-office-platin/tillmanns-heise-u-a-betrvg-42-zusammensetzung-te-35-sonstige-personen_idesk_PI42323_HI2127783.html.
Gleichzeitig hat der Betriebsrat unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Betriebsversammlung auch so zu organisieren und durchzuführen, dass möglichst geringe Dolmetscherkosten anfallen (LAG Baden-Württemberg, Beschluss v. 16.1.1998, 5 TaBV 14/96).

Bezüglich schriftlicher Übersetzungen eröffnet § 43 BetrVG die Möglichkeit, schriftliche Vorlagen des Tätigkeitsberichtes für ausländische Arbeitnehmer*innen übersetzen zu lassen. Dadurch soll die Möglichkeit der Information und der innerbetrieblichen Diskussion ermöglicht werden. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die hierfür anfallenden Kosten zu tragen (LAG Baden Württemberg 7 TaBV 5/82), jedoch nicht in Kleinbetrieben (LAG Düsseldorf, Beschluss v. 30.1.1981, 16 TaBV 21/80).

Was können Betriebsräte zukünftig machen?

Zusammenfassend ermöglichen sowohl das Betriebsverfassungsgesetz als auch die Rechtsprechung seit den 80er-Jahren den Betriebsräten, in der Durchführung ihrer Aufgaben nicht nur die „Erreichbarkeit“ migrantischer Beschäftigten anzustreben, sondern sie auch mit praktischen Maßnahmen durchzusetzen.

Bei der Durchsetzung dieser Zielsetzung haben Betriebsräte hauptsächlich zwei Möglichkeiten:
Einerseits können Betriebsversammlungen mit der Einbeziehung von Dolmetscher*innen so geplant werden, dass die Ablehnung des Arbeitsgebers, die Kosten zu tragen, nicht gerechtfertigt sein kann. Das ist besonders bei Betriebsversammlungen der Fall, in denen über Themen zu personellen Maßnahmen berichtet wird. Außerdem können Betriebsräte durch Umfragen mögliche Überlappungen der im Betrieb gesprochenen Sprachen anfragen, um die Anzahl der zu übersetzenden Sprachen bei Betriebsversammlungen gering zu halten.

Andererseits lässt sich nicht umgehen, dass der Anspruch auf Verdolmetschung zunehmend eingeklagt werden sollte, damit eine breite Rechtsprechung entstehen kann, die die Vielfalt der Betriebe abbildet. Dieser Aspekt ist besonders zu beachten, da das Thema vom Bundesarbeitsgericht noch nicht entschieden wurde, obwohl eingewanderte Beschäftigte seit Jahrzehnten eine wesentliche Rolle in den Betrieben spielen.

Schließlich sollten Betriebsräte und Belegschaften sich mit dem damit verbundenen allgemein gesellschaftspolitischen Thema beschäftigten, nämlich den strukturellen Barrieren, die geringe Sprachkenntnisse begründen. Kolleg*innen zum Thema zu sensibilisieren, ist eine unabdingbare Aufgabe, die nicht unterschätzt werden darf. Davon ist die Zukunft der Mitbestimmung abhängig.

Text: Kaoutar Charjane/Romin Khan 

 [13.6.2023]

 

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