18.09.24
Die Ampel-Koalition hat einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik versprochen. Genau diesen haben ver.di und die Gewerkschaften seit Jahren von der Bundesregierung gefordert und die Vorhaben im Koalitionsvertrag (Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im neuen Koalitionsvertrag – ver.di (verdi.de)) ausdrücklich begrüßt.
Mit dem Chancenaufenthaltsrecht will die Regierung nun mit den Vorhaben beginnen. Durch das neue Gesetz soll langjährig geduldeten Menschen der Weg in ein Bleiberecht ermöglicht werden. Über 200.000 Menschen leben in Deutschland in sogenannten Kettenduldungen, ihnen sind planbare Perspektiven versagt, da sie in vielen Fällen jederzeit abgeschoben werden können. Häufig sind diese Menschen davon bedroht, mit einem Arbeitsverbot belegt zu werden, um ihre Ausreise zu erzwingen. Darunter sind auch viele ver.di-Mitglieder, die mit dem neuen Gesetz große Hoffnungen auf ein Leben in Sicherheit verbinden. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Regelungen praktikabel sind und ihre Erfüllung realistisch ist.
Anhand der Schicksale zweier Kolleg*innen können die Regelungen exemplarisch bewertet werden. So ging in den letzten Jahren der Fall von Farah Hareb-Demir durch die Presse, die als Intensivpflegerin in der Medizinischen Hochschule Hannover arbeitet. Die Kollegin kam im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie als Kriegskind aus dem Libanon nach Deutschland, gilt aber als Staatenlose und lebt seit nunmehr 36 Jahren in Duldung. In der Regel muss sie deshalb alle sechs Monate zum Amt, um die Verlängerung ihrer Duldung zu beantragen. Sie soll, um bleiben zu können, jetzt ihre Identität durch einen DNA-Test nachweisen, eine eidesstattliche Erklärung reicht den Behörden nicht (Ungeklärte Identität: Intensivpflegerin bleibt nur geduldet | NDR.de - Nachrichten - Niedersachsen - Studio Hannover).
Der Bundesmigrationsausschuss hat sich in seiner letzten Sitzung mit der Kollegin solidarisiert und fordert von der Politik, endlich eine pragmatische Lösung für ein Bleiberecht zu finden.
Ein anderer Fall ist der des Kollegen Abdul O. aus Wunstorf, der dort im Amazon-Verteilzentrum arbeitet und auch für die ver.di-Liste bei den Betriebsratswahlen kandidiert hat. Abdul stammt aus Nigeria und lebt seit 2018 mit einer Duldung in Deutschland, er hat Frau und Tochter in Hannover. Um ihn zur Ausreise zu zwingen, haben die Ausländerbehörden ihn kürzlich mit einem Arbeitsverbot belegt. Dagegen hat ver.di protestiert und sich mit Abdul solidarisiert, unter anderem bei der KEP-Tagung „Fair zugestellt statt ausgeliefert“.
Der Druck hat Wirkung gezeigt. Die Ausländerbehörde hat das Arbeitsverbot vorübergehend ausgesetzt, ver.di wird den Kollegen weiterhin unterstützen.
Die betroffenen Menschen sollen einmalig auf Probe eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis bekommen. In dieser Zeit müssen sie nachweisen, dass sie etwa die deutsche Sprache beherrschen und ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern könnten. Dann soll ihnen ein langfristiges Bleiberecht erteilt werden. Straftäter*innen sollten davon ausgeschlossen bleiben, ebenso Personen, die bei den Ausländerbehörden falsche Angaben über ihre Identität gemacht haben.
Aufgrund der Auflagen und Voraussetzungen (Identitätsklärung, Passbeschaffung, seit min. 5 Jahren geduldet, Lebensunterhaltsicherung) könnten, ähnlich wie bei vergleichbaren Vorstößen in der Vergangenheit, aber viele Menschen hiervon ausgeschlossen bleiben. Das zeigt sich bei den konkret benannten Fällen. Die Kollegin Farah würde zu dem von ihr als Erniedrigung empfundenen DNA-Test gezwungen bleiben, weil keine Alternative zur Identitätsklärung als die Passbeschaffung akzeptiert wird. Das ist auch ein großes Problem für viele Geflüchtete aus Afghanistan oder Syrien, die entweder die Botschaften der sie verfolgenden Staaten betreten müssen (z. B. Syrien), um einen Pass zu erhalten oder mit Botschaften konfrontiert sind, die gar keine Dokumente mehr ausstellen (z. B. Afghanistan).
Auch der Kollege Abdul wird nicht von dem Chancenaufenthaltsrecht profitieren können, weil es nur für Geflüchtete greift, die bereits vor dem Stichtag des 1. Januar 2017 eine Duldung beantragt und diese durchgängig erhalten haben.
Ein großes Problem ist zudem die erwartete Lebensunterhaltssicherung, die innerhalb eines Jahres erreicht werden muss. Was heißt dies konkret für Menschen mit Einschränkungen, familiären Pflichten oder Aufstocker*innen? Das Chancenaufenthaltsrecht darf nicht zur Erpressbarkeit von Beschäftigten führen und sie dazu zwingen, jeden Job anzunehmen, um ihr Bleiberecht zu sichern.
Der DGB begrüßt daher grundsätzlich das Vorhaben der Bundesregierung, plädiert aber an vielen Stellen für eine Korrektur der geplanten Regelungen, insbesondere für die Verlängerung des Probeaufenthalts auf mindestens 18 Monate und bei der Stichtagsregelung, die die Kettenduldungen nicht abschaffen wird. (DGB Stellungnahme zum Chancen-Aufenthaltsgesetz | DGB)
Auch der ver.di-Referent für Migrationspolitik, Romin Khan, betonte beim 22. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz in der Evangelischen Akademie zu Berlin am 21. Juni (Flüchtlingsschutzsymposium – Evangelische Akademie zu Berlin (eaberlin.de)), dass das Bleiberecht „als eine Art Belohnung dafür gehandhabt wird, dass man Bedingungen erfüllt, die man in der Realität gar nicht erfüllen kann“.
Hier müsse die Regierung laut Khan dringend nachsteuern, wenn der Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik einen guten Start nehmen soll und positive Regelungen im Sinne auch vieler Gewerkschaftsmitglieder getroffen werden.
[12.7.2022]
18.09.24
09.09.24
10.06.24
14.05.24
14.05.24
09.04.24