Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes

17.07.2023

Neues Gesetz bringt neue Chancen

Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes wurde vom Bundestag und Bundesrat (BT-Drs. 20/5664, BT-Drs 20/6442) beschlossen. Das Gesetz tritt am 01.01.2024 in Kraft.

Bereits seit 2015 definiert die Europäische Kommission den Begriff „inklusiver Arbeitsmarkt“ mit den Worten: „Arbeitsmärkte sind inklusiv, wenn alle Menschen im erwerbsfähigen Alter, insbesondere gefährdete und benachteiligte Menschen, eine hochwertige, bezahlte Beschäftigung ausüben können.“

ver.di begrüßt das Gesetz, das zwar nicht alle Forderungen von ver.di umsetzt, aber einen wichtigen Impuls auf dem Weg zu einen inklusiven Arbeitsmarkt setzt.

Die Änderungen im Einzelnen

Um mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Arbeit zu bringen, mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Arbeit zu halten und eine zielgenauere Unterstützung für Menschen mit Schwerbehinderung zu ermöglichen sind folgende Maßnahmen vorgesehen:

  1. Einführung „vierte Staffel“ in der Ausgleichsabgabe (§ 160 SGB IX)

Grundsätzlich wird für Arbeitgeber ab 21 Beschäftigte, die keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, wird eine „vierte Staffel“ bei der Ausgleichsabgabe eingeführt. Für beschäftigungspflichtige Arbeitgeber heißt das, dass sich ihre künftige Ausgleichsabgabe erhöht. Die „vierte Staffel“ wird zum 1. Januar 2024 eingeführt. Sie ist dann erstmals zum 31. März 2025 zu zahlen, wenn die Ausgleichsabgabe für das Jahr 2024 fällig wird. Bei diesem Vorhaben handelt es sich um eine Vorgabe des Koalitionsvertrages zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP.

Für kleinere Arbeitgeber mit weniger als 60 beziehungsweise weniger als 40 zu berücksichtigenden Arbeitsplätzen sollen wie bisher Sonderregelungen gelten, die geringere Beträge der Ausgleichsabgabe vorsehen.

Ein Verstoß gegen die Beschäftigungspflicht konnte bisher – zusätzlich zur Ausgleichsabgabe – mit einem Bußgeld von bis zu 10 000 Euro geahndet werden. Dies wird ab 01. Januar 2024 aufgrund der erhöhten Ausgleichszahlung entfallen.

Noch immer kommen in Deutschland weniger als die Hälfte aller Betriebe ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Beschäftigung Schwerbehinderter nach. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren im Jahr 2021 insgesamt 1,11 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Demzufolge erfüllten im Jahr 2021 etwa 39 Prozent der Arbeitgeber ihre Pflicht. Fünf Jahre zuvor hat die Quote mit 39,9 Prozent noch um fast einen Prozentpunkt höher gelegen.

ver.di-Position

Die gesetzliche Beschäftigungspflicht von 5 Prozent schwerbehinderter Menschen für Unternehmen ab 60 Beschäftigten und die zu zahlende Ausgleichsabgabe bei Unterlassung, ist ein wichtiges und wirksames Instrument um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf dem „Ersten Arbeitsmarkt“ zu ermöglichen. Die Einführung der „vierten Staffel“ kann sich positiv für mehr Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auswirken. 

 
Ausgleichsabgabe tabellarische Darstellung der zu zahlenden Ausgleichsabgabe bei Nichteinstellung schwerbehinderter Menschen


Kritisch zu sehen ist, das bei Nichterfüllen der Beschäftigungsquote ab 01. Januar 2024 die Sanktionsandrohung wegfällt. ver.di lehnt den Wegfall ab! Das vor dem Hintergrund, das rund 45.000 Arbeitgeber (jeder 4. Betrieb) sich weigern, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen bzw. arbeitssuchende Menschen mit Behinderung einzustellen. Ein hoher Anteil der 45.000 Unternehmen sind die kleinen und mittleren Betriebe, die mit reduzierten Ausgleichsabgaben belegt werden (siehe obige Tabelle). Hier wird trotz hoher Personalengpässe das Potential von Menschen mit Behinderung dauerhaft ignoriert.

  1. Konzentration der Mittel der Ausgleichsabgabe

Die Mittel der Ausgleichsabgabe werden künftig vollständig zur Unterstützung und Förderung der Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Die bisher in der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung vorgesehene Möglichkeit, Mittel auch nachrangig für Einrichtungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben – insbesondere für Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) – zu verwenden, wird ausgeschlossen. Auch bei diesem Vorhaben handelt es sich um eine Vorgabe des Koalitionsvertrages. Weiterhin wird die Förderung der Ausbildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zukünftig auch dann aus dem Ausgleichsfonds förderfähig sein, wenn die Zielgruppe über keine anerkannte Schwerbehinderung verfügt, jedoch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhält.

ver.di-Position

Die Konzentration der Mittel aus dem Ausgleichsfond auf die Förderung von Programmen und Projekten zu begrenzen, die auf die Beschäftigung im „Ersten Arbeitsmarkt“ zielen, ist richtig und wichtig.

Allerdings ist die bisherige Möglichkeit, auch Einrichtungen wie die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und Wohneinrichtungen zu fördern, weggefallen. Das ist nicht unproblematisch. Die WfbM verfügen über ein breites Angebot an Berufsbildungs- und Arbeitsplätzen sowie über qualifiziertes Personal. Fallen die Mittel aus dem Ausgleichsfond für die WfbM nun weg, können dadurch individuelle Fördermöglichkeiten für technische Hilfsmittel und Arbeitsassistenz für Menschen mit Unterstützungsbedarf verloren gehen. Im Grunde hätte man im Vorfeld des Wegfalls eine Einschätzung der Folgen für die WfbM in ihrer bisherigen Struktur und Form durchführen müssen.

  1. Einführung einer Genehmigungsfiktion für Anspruchsleistungen des Integrationsamtes (§ 185 SGB IX)

Schwerbehinderte Menschen haben Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine „Arbeitsassistenz“ und/oder eine „Berufsbegleitung“ im Rahmen der unterstützten Beschäftigung und im Rahmen der aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung stehenden Mittel.

Künftig wird eine Genehmigungsfiktion nach Ablauf von sechs Wochen gelten. Das bedeutet, dass ein Integrationsamt spätestens innerhalb von 6 Wochen einen eingegangenen Antrag (z.B. für Arbeitsassistenz und/oder Berufsbegleitung) bearbeitet und entschieden haben muss! Dies soll den zeitnahen Abschluss des Bewilligungsverfahrens der Integrationsämter sicherstellen und die Leistungen, die im Rahmen der unterstützten Beschäftigung beantragt werden können rechtzeitig zur Verfügung stellen. Bei dem Vorhaben handelt es sich um eine Vorgabe des Koalitionsvertrages.

ver.di-Position

Die Einführung einer Genehmigungsfiktion für Anspruchsleistungen des Integrationsamtes mit dem Ziel, Betroffenen einen schnelleren Zugang zu den ihnen zustehenden Leistungen wie „Berufsbegleitung“ und „Arbeitsassistenz“ zu ermöglichen, ist positiv zu bewerten. Wie weit das in der Praxis umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. Möglicherweise bedarf es einer höheren Personalausstattung in den Integrationsämtern.

  1. Aufhebung der Deckelung für den Lohnkostenzuschuss beim Budget für Arbeit (§ 61 SGB IX)

Ziel des Budgets für Arbeit ist es, durch die Kombination aus finanzieller Unterstützung an den Arbeitgeber und kontinuierlicher personeller Unterstützung am Arbeitsplatz, sozialversicherte Arbeitsmöglichkeiten auf dem „Ersten Arbeitsmarkt“ für Menschen mit Behinderungen besser zu ermöglichen. Zugleich stellt es eine Alternative zur Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) dar.

Beim Budget für Arbeit ist der vom Leistungsträger zu erstattende Lohnkostenzuschuss bisher auf 40 Prozent der Bezugsgröße (regelmäßiges Arbeitsentgelt) begrenzt. Durch die Abschaffung der Deckelung wird sichergestellt, dass auch nach Anhebung des Mindestlohns in 2023 auf 12 Euro bundesweit der maximale Lohnkostenzuschuss – soweit nach den Umständen des Einzelfalls erforderlich – gewährt werden kann.

ver.di-Position

Die Aufhebung der Deckelung für den Lohnkostenzuschuss beim Budget für Arbeit begrüßt ver.di.

Die bisher unterschiedliche Ausgestaltung in den Bundesländern ist damit aufgehoben (einige Bundesländer sind bereits nach oben abgewichen, andere jedoch nicht). Trotzdem bedarf es noch weiterer Maßnahmen um das Budget für Arbeit und das Budget für Ausbildung zu stärken und auszubauen. Unter anderem müssen die zuständigen Unterstützungs-Stellen personell aufgestockt werden, um eine qualifizierte, personenzentrierte Beratung und Begleitung der Menschen mit Behinderungen erfolgreich durchführen zu können.

Auch hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass, obwohl es sich um ein reguläres Arbeitsverhältnis auf dem „Ersten Arbeitsmarkt“ handelt, ein Versicherungsschutz fehlt - es besteht nämlich kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld oder auf Arbeitslosengeld.

ver.di fordert, dass der Gesetzgeber diese Nachteile abschafft und dem betroffenen Kreis die gleichen Rechte und die gleiche Absicherung zukommen lässt.

  1. Neuausrichtung des Sachverständigenbeirates versorgungsmedizinische Begutachtung (§ 153 a SGB IX)

Um Betroffene als Expert*innen in eigener Sache besser bei der Arbeit des „Ärztlichen Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin“ zu berücksichtigen, wird dieser zu einem „Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizinische Begutachtung“ weiterentwickelt. Bisher wurde das in der Versorgungsmedizin-Verordnung VersMedV geregelt, künftig im SGB IX. Die Verbände für Menschen mit Behinderungen, die Länder sowie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) können je sieben Mitglieder benennen, darunter jeweils mindestens vier Ärzt*innen, die versorgungsmedizinisch oder wissenschaftlich besonders qualifiziert sind. Daneben können und sollen aber auch Sachverständige mit einer anderen Kompetenz (z. B. aus dem Gebiet der Sozial- oder Arbeitswissenschaft, der Teilhabeforschung oder Disability Studies (sozial- und kulturwissenschaftliche Erforschung des Phänomens Behinderung) benannt werden. Die Zusammensetzung des Beirates folgt damit nicht mehr einem rein medizinisch orientierten Verständnis von Behinderung, sondern einem teilhabeorientierten und ganzheitlichen Ansatz.

ver.di Position

Die Neuausrichtung des Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizinische Begutachtung (§ 153a SGB IX) ist richtig und wichtig. Der Beirat wird von 17 Mitglieder auf 21 Mitglieder vergrößert. Der bisherige Beirat bestand überwiegend aus Versorgungsmediziner*innen. Jetzt werden sieben Mitglieder von den Ländern, sieben Mitglieder vom BMAS und sieben Mitglieder durch den Deutschen Behindertenrat benannt. Jeweils vier müssen einen medizinischen Hintergrund haben. Damit wird der Beirat nicht nur vergrößert, sondern auch das Spektrum der vertretenen Expert*innen erweitert.

ver.di begrüßt, dass damit nicht nur Versorgungsmediziner*innen, sondern auch Teilhabewissenschaftler*innen und Expert*innen aus den betroffenen Verbänden gleichberechtigt die versorgungsmedizinischen Grundsätze diskutieren und empfehlen können.

ver.di fordert, den fehlenden Bezug zur Arbeitswelt im Beirat herzustellen. Das Wissen insbesondere der betrieblichen Interessensvertretungen, d. h. der Schwerbehindertenvertretungen ist noch ungenutzt. Die Implementierung der Arbeitswelt durch qualifizierte Expert*innen aus den Betrieben ist dringend notwendig.

[11.7.2023]

 

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