Frauen in der Sozialen Selbstverwaltung

08.03.2022

Interview zum Internationalen Frauentag 

ver.di setzt sich für einen höheren Anteil weiblicher Selbstverwalterinnen ein. Warum uns das so wichtig ist? Weil wir dringend eine Interessenvertretung bei den Sozialversicherungsträgern brauchen, die die Bedürfnisse aller Beitragszahlenden abbildet! Anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März haben wir mit Ulrike Hauffe, stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrates der BARMER und Lisette Hörig, Verwaltungsratsmitglied bei der AOK Rheinland-Pfalz, gesprochen.

Erstere steht für langjährige Erfahrung, letztere für die neue junge Generation von Selbstverwalterinnen. 

Mit dem Sozialwahlmodernisierungsgesetz wurde für die Selbstverwaltungen der Krankenkassen für die Sozialwahlen 2023 eine verbindliche Frauenquote von 40 Prozent auf jeder Wahlvorschlagsliste festgelegt. Für die anderen Zweige der Sozialversicherung ist die 40-Prozent-Quote leider nicht bindend. Ihr seid beide in Gremien der Krankenkassen aktiv, wie sah es denn dort bislang mit dem Frauenanteil aus? Und freut ihr euch auf den erwartungsgemäß hohen Zuwachs weiblicher Selbstverwalter*innen?

Lisette Hörig: In meinem Verwaltungsrat sind auf Seiten der Versichertenbank bisher nur zwei Frauen vertreten, mich eingeschlossen. Aber auch auf der Seite der Arbeitgeber sind Frauen nur sehr punktuell vertreten. Der einzige Lichtblick ist, dass der Vorstandsvorsitz und ein weiteres Vorstandsmandat von Frauen besetzt werden und diese sind auch wirklich stark. Ich setze in die nächste Wahl zwei Hoffnungen: mehr Frauen, aber auch einen etwas niedrigeren Altersschnitt. Ich bin mit meinen 40 Jahren nämlich vom Alter aus betrachtet das absolute "Küken".

Ulrike Hauffe: Als ich im Jahr 2005 in den Verwaltungsrat der BARMER gewählt wurde, waren Frauen mit einem Anteil von 33 Prozent (laut eigener Berechnung) deutlich unterrepräsentiert. Doch selbst mit diesem Wert war die BARMER Spitzenreiter unter den Ersatzkassen, bei denen im Schnitt nur jedes vierte Verwaltungsratsmitglied weiblich war. Inzwischen hat sich doch einiges getan. Seit dem Jahr 2017 beträgt der Frauenanteil im Verwaltungsrat der BARMER 40 Prozent und über die Ersatzkassen hinweg knapp 37 Prozent. Die Verwaltungsräte bei den Krankenkassen sind also weiblicher geworden. Aber kann uns das bisher Erreichte zufriedenstellen? Keineswegs! In den Gremien der Selbstverwaltung muss es eine Geschlechterparität geben. Je eher, desto besser. Hier gibt es keinen triftigen Grund, weswegen Frauen in den Verwaltungsräten unterrepräsentiert sein sollten. Dieser Einsicht ist auch der Gesetzgeber gefolgt und hat im „Gesetz zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen“ vom 18. Februar 2021 (kurz "Trio-Gesetz genannt) festgelegt, dass in Zukunft die Vorschlagslisten zu den Sozialversicherungswahlen nahezu paritätisch mit mindestens 40 Prozent weiblichen Bewerberinnen und 40 Prozent männlichen Bewerbern aufgestellt werden müssen. Allerdings müssen Frauen nach wie vor gegen Vorurteile ankämpfen. Dazu gehört zum Beispiel der Irrglaube, dass sich Frauen seltener Zeit für diese Aufgabe nehmen können als Männer. Begründet wird dieses Vorurteil mit familiären und beruflichen Belastungen, die Frauen doch parallel stemmen müssten. Und das würde sie schlichtweg daran hindern, Aufgaben in der Selbstverwaltung wahrzunehmen. Das ist selbstverständlich nur eine fadenscheinige Begründung – und zeigt ein komplett tradiertes Familienbild. Um diese Argumentation auszuhebeln, reicht allein der Blick auf den Altersdurchschnitt in den Verwaltungsräten der Ersatzkassen. Bei den Frauen beträgt er 55,9 Jahre und bei den Männern 62,6 Jahre (eigene Berechnung der BARMER). Frauen stehen also mitten im Leben, haben Erfahrungen damit, Beruf und Familie zu meistern. Selbstverständlich könnten die Arbeitsbedingungen für Selbstverwaltende ihren Lebensrealitäten jedoch noch besser angepasst werden. 

Wisst ihr, was die Sozialversicherungsträger ihrerseits tun, um den Frauenanteil zu erhöhen?

Lisette Hörig: Bei den Sozialversicherungsträgern selbst kann ich keine Bemühungen erkennen, aber insbesondere die DGB-Gewerkschaften möchten bei den nächsten Wahlen etwas verändern. ver.di ist als große Frauenorganisation dort auch treibende Kraft. Von den Gewerkschaften werden viele virtuelle Veranstaltungen und Gesprächsrunden organisiert, um junge Frauen zu einer Kandidatur zu motivieren und ihnen auch deutlich zu machen, warum es wichtig ist sich in Verwaltungsräten zu engagieren. Auch wenn das auf den ersten Blick veraltet und verstaubt wirkt – das ist es absolut nicht. 

 
Ulrike Hauffe Ulrike Hauffe, stellvertretende Vorsitzende im Verwaltungsrat der BARMER

Ulrike Hauffe: Frauen in Verwaltungsräten können die Chancengleichheit in Unternehmen stärken und sie damit erfolgreicher machen. So hatte der Verwaltungsrat der BARMER im Jahr 2010 einstimmig beschlossen und 2019 nochmals als Beschluss verstärkt, dass der Frauenanteil auf allen Führungsebenen 50 Prozent betragen soll. Warum haben wir das gemacht? Aus einem nahe liegenden Grund. Moderne Unternehmen benötigen weibliche Führungskräfte. Studien belegen, dass sich ein hoher Anteil von Frauen im Management eindeutig positiv auf das wirtschaftliche Ergebnis des Unternehmens auswirkt. Unternehmen mit einem hohen Frauenanteil in den Vorständen sind auch nachweislich finanziell erfolgreicher. Frauen in Führungspositionen bereichern im doppelten Sinne ein Unternehmen. Sie führen nicht besser oder schlechter als Männer, aber anders. Deshalb ist es gut und richtig, dass der Frauenanteil in den Führungspositionen der BARMER in den letzten Jahren stetig gestiegen ist. Bei den jungen Beschäftigten bis 34 Jahren ist die Geschlechterparität bereits erreicht. 

Ein großes Anliegen von ver.di ist es, das Ehrenamt in der Sozialen Selbstverwaltung insgesamt vielfältiger aufzustellen. Bislang fehlen vor allem weibliche und jüngere Selbstverwalter*innen, Interessenvertreter*innen mit Migrationsgeschichte. Warum ist es eurer Meinung nach wichtig, dass unterschiedliche Perspektiven in die konkrete Arbeit der Selbstverwalter*innen mit einfließen? 

Ulrike Hauffe: Verwaltungsräte und andere Gremien der Selbstverwaltung sollten die Gesellschaft möglichst genau abbilden. Denn inwieweit Frauen, aber auch Migrant:innen in der Selbstverwaltung beteiligt sind, hat Einfluss auf praktisch alle Prozesse im Gesundheitswesen. Ihre Rolle für Inhalte und Strukturen kann man gar nicht deutlich genug betonen. 

Lisette Hörig: Jede Gruppe hat einen anderen Blick auf die Entscheidungen zu Versorgung oder auch auf die Leistungen. All diese Blickwinkel müssen beachtet werden. Wichtig ist es, die Gesellschaft und die Mitgliedschaft in den Verwaltungsräten abzubilden. Es scheitert dabei schon am Anteil der Frauen, Interessenvertreter*innen mit Migrationshintergrund sieht man noch seltener. Das halte ich persönlich für eine große Schwäche des Systems. 

Welche Veränderungen hat es in der Vergangenheit durch die Beteiligung von Frauen in den Gremien gegeben. Könnt ihr uns ein paar konkrete Beispiele nennen? 

Ulrike Hauffe: Meine Antwort ist mit der Frage verbunden, wie ich in den Verwaltungsrat der BARMER gekommen bin. Ganz einfach: Es wurde eine Frau mit frauengesundheitspolitischer Expertise gesucht. Angesprochen hatte mich Ute Engelmann (ver.di), die damals stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende bei der BARMER war. Diese Expertise brachte ich bereits im Jahr 2005 unbestritten mit. Zudem hieß es, es sei nicht viel Arbeit. Das hingegen stellte sich natürlich als blanke Untertreibung heraus. Bereut habe ich es trotzdem nie. Schnell übernahm ich die Leitung des mir thematisch nahestehenden Leistungsausschusses und hatte somit die Möglichkeit, inhaltlich zu gestalten. Daten mussten zum Beispiel fortan immer geschlechtsspezifisch für den Verwaltungsrat aufbereitet werden. Ich legte großen Wert darauf, dass Themen aus der Perspektive der Versicherten geschlechtsdifferenziert beleuchtet wurden. Ein Beispiel ist die Krebsfrüherkennung, die aus naheliegenden Gründen geschlechterspezifisch erfolgen muss. Aber auch die Arzneimittelversorgung ist dafür ein relevantes Thema. 

 
Lisette Hörig Mitglied im Verwaltungsrat der AOK Rheinland-Pfalz

Auch nach außen hat die BARMER diese Themen sichtbarer gemacht. Nicht zuletzt mit der großen Kampagne zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Medizin mit der Überschrift „#Ungleichbehandlung“ – gut im Netz nachvollziehbar. Darüber hinaus gibt es Themen wie Schwangerschaft und Geburt, die Frauen besonders berühren und noch stärker in den Fokus rücken müssen. Nicht zuletzt ist der häufigste Grund, in Deutschland ein Krankenhaus aufzusuchen, die Geburt: ca. 780.000-mal pro Jahr. Aus guten Gründen war und ist die BARMER bei der Entwicklung und Umsetzung des Nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“ aktiv beteiligt. Das ist nicht von selbst geschehen, sondern durch die Sensibilisierung der Selbstverwaltung.

Lisette Hörig: Ich habe an dem Punkt wesentlich weniger Erfahrung als Ulrike und habe mich in den ersten Jahren auch erst einarbeiten und orientieren müssen. Leider fand bei mir keine Übergabe statt, deswegen war es für mich etwas schwieriger, mich einzuarbeiten. Die AOK hat zu Beginn einen thematischen Crashkurs angeboten, aber insbesondere meine Rolle musste ich dort selbst finden und mir vor allem ein AOK internes Netzwerk aufbauen. Ich profitiere sehr von meinem Kontakt zu den ver.di-Personalräten und der ver.di-Betriebsgruppe, die mir viele Zusammenhänge erläutert und auch ihre Sichtweise nähergebracht haben, das möchte ich nicht missen. 

Ulrike, hast Du Tipps für junge Selbstverwalterinnen wie Lisette? Lisette, schätzt Du den Austausch mit älteren und erfahrenen Selbstverwalterinnen? Hast Du Fragen an Ulrike? 

Ulrike Hauffe: Das Gesundheitswesen ist ein vermachtetes System und es ist mehr als wichtig, dieses System zu durchschauen – nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Denn vermachtet sind auch die Gremien der Selbstverwaltung. Häufig sagen wir Frauen, „alte, weiße Männer“ regieren auch das Selbstverwaltungssystem. Und es stimmt. Es ist deutlich, wie die jeweiligen Funktionen besetzt werden, häufig in Hinterzimmern ausgekungelt. Nun bin ich eine „alte, weiße Frau“, kann mich also selbst bezichtigen. Uns Frauen liegen aber eher die sachlich motivierten, transparenten Vorgehensweisen. Um aber Mitmachen zu können, ist es wichtig, diese Seilschaften zu durchschauen, Transparenz einzufordern, eigene Netzwerke (Netzwerke sind andere Systeme als Seilschaften) aufzubauen und sich in keinem Fall zu scheuen, Verantwortung zu übernehmen – auch mit Vorschlägen und Redebeiträgen. Andere kochen auch nur mit Wasser. 

Lisette Hörig: Ich schätze diesen Austausch hier sehr. Mit einem Blick zurück, hätte ich mir diesen vor meiner ersten Kandidatur gewünscht. Ich bin froh, dass es dafür jetzt wesentlich mehr Angebote für Einsteiger*innen und Interessierte gibt. Sich einzuarbeiten und gleichzeitig nicht die kleine (junge) Neue zu sein, die von den Herren belächelt wird, war ein kleiner Kraftakt, insbesondere weil die Selbstverwaltung ein Ehrenamt ist, das neben dem normalen Job ausgeübt wird. Hätte es dieses Interview vor fünf Jahren gegeben, hätte ich Ulrike um ein Coaching gebeten. 

Im Gesundheitsbereich setzt sich langsam ein Wissen über gendersensible Medizin durch. Was ist für einen besseren Schutz von Frauen bei den Krankenkassen in Zukunft notwendig? Und kann eure Arbeit im Verwaltungsrat dazu beitragen?  

Ulrike Hauffe: Gleichberechtigung ist wirklich nicht nur eine nummerische Frage. Denn inwieweit Frauen in der Selbstverwaltung beteiligt sind, hat Einfluss auf praktisch alle Prozesse im Gesundheitswesen. Ihre Rolle für Inhalte und Strukturen kann man gar nicht deutlich genug betonen. Die medizinische Forschung und Lehre orientieren sich immer noch am männlichen Körper. Das führt wiederum zu einer geringeren medizinischen Versorgungsqualität von Frauen und sogar zu eklatanten Behandlungsfehlern. Davor schützt am ehesten: die Kenntnisse, Sichtweisen und Einschätzungen von Frauen auf Behandlung und Versorgung von Anfang an mit einzubeziehen und ihre Expertise zu nutzen. Frauen werden also in der Selbstverwaltung gebraucht! Sie müssen in die Entscheidungsprozesse eingebunden sein. Nur so kann sich dauerhaft etwas ändern.

Lisette Hörig: Ich kann Ulrike nur beipflichten, das größte Problem ist es, den Blick dafür zu schärfen, dass viele Prozesse und Erkenntnisse immer noch vom männlichen Körper ausgehen. Eine angemessene Versorgung von Frauen bedarf aber eines anderen Blicks. Diesen immer wieder in den Fokus zu schieben, das sehe ich auch als unsere Aufgabe an! 

Viele Versicherte melden uns zurück, dass sie gar nicht wüssten, was ihre Selbstverwalter*innen für sie machen. Wie und wo können sie von Deiner Arbeit erfahren? 

Ulrike Hauffe: ver.di hat die Seite sozialversicherung.watch, also das Dialog-Portal zur Selbstverwaltung vor der letzten Sozialwahl so eingesetzt, dass Nutzer*innen der Seite Selbstverwaltenden, die sich zur Wahl stellten, mit Fragen löchern konnten. Wer also auch jetzt auf die Seite geht, dann anschließend auf das Logo meiner Krankenkasse BARMER drückt, kommt gleich zu uns Selbstverwaltenden und kann sehen, dass mir 61 Fragen gestellt wurden, die – zusammen mit den dazugehörigen Antworten – auch jetzt noch von allen gelesen werden können. 

Die BARMER gibt eine Zeitschrift für ihre Versicherten heraus, in der die Mitglieder der Selbstverwaltung mit Themen repräsentiert sind. Das heißt, hier bekommen die Versicherten regelmäßig mit, was einige von uns Selbstverwaltenden zu bestimmten wichtigen Themen denken. Darüber hinaus werden sehr vielfältig die sozialen Medien bedient, also Twitter, Facebook oder Instagram. Zum einen haben die Ersatzkassen eine Medienagentur beauftragt, über die gesamte Wahlperiode Versichertenvertreter:innen mit Aussagen zu präsentieren und zum anderen ist in der BARMER die Zusammenarbeit mit der Presse- und Kommunikationsabteilung sehr gut gesichert, sodass wir uns und unsere Arbeit immer wieder darstellen können. Ich wurde zum Beispiel zu jedem Internationalen Frauentag um einen größeren Beitrag zur Frauengesundheit gebeten, der dann in vielen großen Printmedien zum Abdruck freigegeben wurde. 

Lisette Hörig: Ja, viel mehr Bürgerinnen und Bürgern sollten das System der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung kennen. Ich stelle in meinem privaten Umfeld immer wieder überraschte Gesichter fest, wenn ich sage, dass ich im Verwaltungsrat der AOK sitze. Leider spiegelt sich diese Unkenntnis auch in der Beteiligung bei den Sozialwahlen wider, die viel zu gering ist. Das Thema Selbstverwaltung müsste auch in der schulischen Bildung einen größeren Stellenwert bekommen, schließlich ist es die Chance, als Versicherte über den Einsatz meiner Mitgliedsbeiträge und die Ausrichtung meiner Krankenkasse mitzuentscheiden. Entweder über die von mir gewählten Selbstverwalterinnen oder im Idealfall sogar selbst.

[8.3.2022]