11.11.24
Das von der Bundesregierung eingebrachte Bürgergeldgesetz konnte bedauerlicherweise nicht in der ursprünglich geplanten Form umgesetzt werden (siehe sopoaktuell Nr. 336 v 25.11.2022).
Grund dafür war die fehlende Zustimmung des Bundesrates, die auf die kritische Haltung der Union zu dem Gesetz zurückzuführen ist. Dabei ging es neben sachlicher Kritik auch darum, die Bedeutung des Bundesrates in Gesetzgebungs-verfahren gegenüber dem Parlament zu betonen. (Immer dann, wenn es in den beiden Gremien unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse gibt, kommt dem besondere Bedeutung zu.) Der sich daraus ergebende Kompromiss war notwendig damit die erhöhten Regelsätze, ein Teil der Neuregelungen des Bürgergeldgesetzes, ab dem 1.1.2023 ausgezahlt werden können.
Insgesamt war das aber „keine gute Grundlage für eine fortschrittliche Reform um die Situation der Betroffenen zu verbessern“ kommentiert Frank Werneke. Die These von Friedrich Merz: “Das Bürgergeld ist der Versuch, der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens durch die Hintertür.“ ist für Frank Werneke der Ausdruck eines repressiven Menschenbildes, das auf Zwang setzt und Menschen ungerechtfertigt Arbeitsunwilligkeit unterstellt.
Das ist nicht das Menschenbild von ver.di!
Wir setzen vielmehr darauf, Erwerbslosen die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestmöglich zu erleichtern.
Die von der Union für nötig gehaltenen Sanktionen lehnen wir ab, es braucht Unterstützung, nicht Strafe.
Folge dieser Auseinandersetzung ist eine öffentliche Diskussion darüber, ob sich Arbeit überhaupt noch lohnt. Johannes Steffens, ein anerkannter Sozialpolitiker, erklärt das „Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit“.
Und das bei einem Regelsatz, der auch nach der Reform weder ein Leben in Würde ermöglicht, geschweige denn sozio-kulturelle Teilhabe. ver.di fordert seit langem nicht nur eine angemessene Erhöhung, sondern auch eine neue Berechnungsart für die Regelsätze.
Das Bürgergeld-Gesetz strebt einen Paradigmenwechsel an: Weg von der Sanktionspraxis hin zu deutlich mehr Motivation, Respekt und Vertrauen. Soziale Teilhabe, langfristige Perspektiven und neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt sollen den Betroffenen eröffnet werden. Finanzielle Anreize sollen die Weiterbildung stärken und Geringqualifizierte auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung unterstützt werden.
Auch wenn durch den Kompromiss positive Maßnahmen teilweise aufgegeben werden mussten, sieht ver.di weiterhin positive Aspekte bei den Regelungen zum neuen Bürger*innengeld, dass die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ weiterentwickelt.
Ein echter Fortschritt ist die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Wie schon beim Arbeitslosengeld I soll künftig nicht allein die schnelle Vermittlung im Mittelpunkt stehen; dies ist insbesondere für Menschen wichtig, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Für Betroffene gibt es künftig deutlich mehr Möglichkeiten, einen Berufsabschluss zu erreichen oder eine Weiterbildung zu absolvieren. Damit steigen auch die Chancen für eine bessere und nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt.
Das hindert ver.di nicht, sich weiterhin insbesondere für angemessene und existenzsichernde Regelsätze sowie Verbesserungen einzusetzen und deren Umsetzung zu fordern.
ver.di hat ihre Positionen in einer eigenen, die des DGB ergänzende, Stellungnahme dargestellt. Im Folgenden geht es um die Darstellung der Neuregelungen jeweils zum 1.1.2023 und zum 1.7.2023.
Künftig gibt es ein einheitliches Bürger*innengeld; nach Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld wird nicht mehr unterschieden. Bis Mitte 2023 werden alle Formulare angepasst.
Die Regelsätze werden zwischen 35 und 53 Euro je nach Regelbedarfsstufe erhöht (siehe Tabelle). Mit einem nur um rund 50 Euro höheren Regelsatz wird die ver.di-Forderung nach einem menschenwürdigen Existenzminimum allerdings keinesfalls erfüllt. ver.di fordert neben einer angemessenen Erhöhung seit langem ein verändertes Bemessungsverfahren für die Regelsätze.
Leistungsberechtigte sollen sich zu Beginn des Bürgergeldbezugs ganz auf die Arbeitsuche konzentrieren können. Deswegen gelten im ersten Jahr Karenzzeiten für Wohnung und Vermögen. Die Karenzzeit startet mit Leistungsbeginn, frühestens zum 01.01.2023 für alle bestehenden Leistungsbeziehenden!
Die Karenzzeit verlängert sich um die Monate mit Leistungsunterbrechung; eine neue Karenzzeit beginnt erst nach drei Jahren ohne Leistungsbezug.
Erst nach der Karenzzeit kann das Kostensenkungsverfahren gestartet werden. Die Karenzzeit gilt nicht bei Umzug in eine teurere Wohnung! Die Karenzzeit gilt auch nicht für Bedarfsgemeinschaften, bei denen zuvor schon nur die angemessenen Unterkunftsbedarfe und nicht die tatsächlichen Bedarfe anerkannt waren!
Verstirbt ein Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft und ist dadurch die Angemessenheitsgrenze überschritten, ist das Kostensenkungsverfahren für die nächsten 12 Monate nicht zumutbar.
Das gilt nicht für die Heizkosten, die in angemessenem Umfang gewährt werden.
In den ersten 12 Monaten bleibt Vermögen von bis zu 40.000 Euro geschützt. Für jede weitere Person der Bedarfsgemeinschaft erhöht sich dieser Freibetrag um jeweils 15.000 Euro. Nach der Karenzzeit gilt ein Vermögensfreibetrag von 15.000 Euro für jede Person der Bedarfsgemeinschaft. Die Freibeträge sind innerhalb der Bedarfsgemeinschaft übertragbar.
Rücklagen für die Altersvorsorge und selbstgenutztes Wohneigentum werden ebenfalls besser geschützt.
„Leistungsminderungen“ statt Sanktionen bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen sind von Beginn des Leistungsbezugs an möglich. Bei einem Meldeversäumnis wird der Regelbedarf um 10 Prozent für einen Monat gemindert. Bei der ersten Pflichtverletzung wird der Regelbedarf um 10 Prozent für einen Monat, bei einer zweiten Pflichtverletzung um 20 Prozent für zwei Monate und in der letzten Stufe um 30 Prozent für drei Monate gemindert.
Achtung: 100 Prozent Leistungsminderung (Sanktion) durch vorläufige Leistungseinstellung und Entsagungs- und Entziehungsbescheide wegen fehlender Mitwirkung.
Die 100-Prozent-Sanktionen (Leistungsminderung) durch vorläufige Leistungsversagungen und Entsagungs- und Entziehungsbescheide wegen fehlender Mitwirkung wurde im „Bürgergeld – Gesetz“ nicht angepackt. Die hier stattfindenden Leistungsminderungen (Sanktionen) sind nicht auf 30 Prozent begrenzt, sondern regelmäßig und sehr häufig rechtswidrig. 100 Prozent Sanktionen: d.h. komplette Leistungseinstellungen, keine Regelleistung, keine Kosten der Unterkunft (KdU), keine Krankenversicherung (KV).
Minderjährige, die wegen der Einkommensänderungen ihrer Eltern Leistungen zurückzahlen müssen, haften für diese Überzahlung bei Eintritt der Volljährigkeit nur noch dann, wenn sie mehr als 15.000 Euro an Vermögen haben.
Der Soziale Arbeitsmarkt wird entfristet. Weiterbildung und Erwerb eines Berufsabschlusses stehen beim Bürgergeld im Vordergrund; der sogenannte Vermittlungsvorrang (also die bevorzugte Vermittlung in Erwerbstätigkeit) wird abgeschafft.
Bis zu einer Bagatellgrenze von 50 Euro verzichten Jobcenter auf Rückforderungen.
Ältere erwerbsfähige Leistungsberechtigte müssen nicht vorzeitig die Altersrente in Anspruch nehmen. Die Sonderregelung für Ältere, wonach sie nach einem Jahr des Leistungsbezuges nicht mehr als arbeitslos erfasst werden, wird probeweise bis Ende
2026 abgeschafft.
Änderungen ab 1.7.2023
Die Anforderungen an die Erreichbarkeit von Leistungsbeziehenden wird an die Möglichkeiten moderner Kommunikation angepasst.
Wer eine Ausbildung oder Umschulung machen will, soll dabei intensiver unterstützt werden. Wer eine Weiterbildung mit Abschluss in Angriff nimmt, bekommt für erfolgreiche Zwischen - und Abschlussprüfungen eine Weiterbildungsprämie. Die Weiterbildungsprämien für bestandene Zwischen- und Abschlussprüfungen wurden dauerhaft ins Gesetz aufgenommen Zusätzlich gibt es ein monatliches Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro. Bei Bedarf kann ein Berufsabschluss auch in 3 statt in 2 Jahren nachgeholt werden, das erweitert das Spektrum der Ausbildungsberufe. Aber auch die Teilnahme an Weiterbildungen, die nicht auf einen Berufsabschluss zielen und länger als 8 Wochen dauern, soll unterstützt werden – mit dem Bürgergeldbonus in Höhe von monatlich 75 Euro. Es besteht die Möglichkeit, mehr Zeit zum Lernen zu bekommen. Das Nachholen eines Berufsabschlusses kann bei Bedarf auch unverkürzt gefördert werden. Wer eine berufliche Weiterbildung absolviert, erhält danach drei Monate lang Arbeitslosengeld nach dem SGB III. Wer Grundkompetenzen benötigt, zum Beispiel bessere Lese-, Mathe- oder IT-Kenntnisse, kann diese leichter nachholen.
Die Freibeträge für alle Erwerbstätigen werden verbessert. Bei einem Einkommen zwischen 520 und 1000 Euro dürfen 30 Prozent davon behalten werden. Dies bedeutet eine Erhöhung des Erwerbstätigenfreibetrages um max. 48 Euro. Bei Kombinationen aus Job und steuerlich privilegiertem Einkommen kommt es rechnerisch je nach Einzelfall zu einer Verschlechterung von max. 30 Euro oder einer Verbesserung um 50 Euro zu den bisherigen Anrechnungsregeln.
Junge Menschen dürfen das Einkommen aus Schüler- und Studentenjobs und aus einer beruflichen Ausbildung genauso wie Bundesfreiwilligen- und FSJ-Dienstleistende bis zur Minijob-Grenze (derzeit 520 Euro) behalten. Das gilt auch in einer dreimonatigen Übergangszeit zwischen Schule und Ausbildung. Einkommen aus Schülerjobs in den Ferien bleibt gänzlich unberücksichtigt. Ehrenamtliche können jährlich bis zu 3.000 Euro der Aufwandsentschädigung behalten.
Der Kooperationsplan ersetzt die formale Eingliederungsvereinbarung und ist der „rote Faden“ für die Arbeitssuche. Die gemeinsam entwickelte Strategie wird im Kooperationsplan in verständlicher Sprache gemeinschaftlich von Jobcenter-Beschäftigten und Bürgergeld-Beziehenden erarbeitet. Der Kooperationsplan enthält keine Rechtsfolgenbelehrung. Er wird schrittweise bis Ende 2023 die Eingliederungsvereinbarung ablösen. Wenn bei Erarbeitung oder Fortschreibung des Kooperationsplans Meinungsverschiedenheiten auftreten, kann ein neues Schlichtungsverfahren vor Ort weiterhelfen.
Ein Schlichtungsverfahren bei Meinungsverschiedenheit zum Kooperationsplan soll auf Verlangen einer Seite (also auch von den Leistungsbezieher*innen) eingeleitet werden können. Während des Schlichtungsverfahrens kommt es zu keiner Leistungsminderung (Sanktion). Die Umsetzung bleibt unklar und weitgehend den regionalen Jobcentern überlassen. Dies ist eine Chance der unabhängigen Erwerbslosenberatungsvereine sich für eine Schlichtungsstelle bei den Jobcentern zu bewerben!
Bürgergeld-Beziehende können die ganzheitliche Betreuung/Coaching als neues Angebot in Anspruch nehmen. Das Coaching kann auch aufsuchend, ausbildungs- oder beschäftigungsbegleitend erfolgen.
Bei einer medizinischen Reha muss kein Übergangsgeld mehr beantragt werden, das Bürgergeld wird weitergezahlt.
Mutterschaftsgeld wird nicht mehr als Einkommen angerechnet und Erbschaften zählen nicht als Einkommen, sondern als Vermögen.
Die Umstellung von Alg II oder Sozialgeld erfolgt automatisch. Die Regelsätze werden zum 1.1.2023 automatisch erhöht. Ein neuer Antrag muss nicht gestellt werden. Eine begonnene Maßnahme wie z. B. eine Weiterbildung, läuft nach Einführung des Bürgergeldes wie gewohnt weiter.
Siehe auch:
[21.12.2022]
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